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Die belarussische Opposition wird stärker

Während der Krieg in der Ukraine weiter tobt, scheint die Stabilität im benachbarten Belarus – das die russische Invasion unterstützt – zu bröckeln. Hat der Angriffskrieg des russischen Präsidenten Wladimir Putin eine Büchse der Pandora für ein Regime geöffnet, das de facto eine Aussenstelle des Kremls ist?

Es sei daran erinnert, dass Swetlana Tichanowskaja bei der letzten Präsidentschaftswahl in Belarus im August 2020 den Amtsinhaber Alexander Lukaschenko mit ziemlicher Sicherheit geschlagen hat, dessen Lakaien sie zuvor als «Hausfrau» abqualifiziert hatten. Als sich abzeichnete, dass Tichanowskaja den Wahlsieg davontragen würde, fälschte Lukaschenko die Ergebnisse und sicherte sich auf diese Weise über 80% der Stimmen – und löste massive Proteste aus, die sich über Monate hinzogen.

Auf die Demonstrationen nach den Wahlen reagierte Lukaschenko mit Terror und Massenverhaftungen, wodurch die Proteste allerdings noch weiter zunahmen. Schon wenige Tage nach der Wahl begann seine Autorität zu schwinden, als Arbeiter, öffentliche Medien, Ärzte, Studenten, Rentner und viele andere offen gegen die Sicherheitsdienste auftraten. Das ganze Land trat in einen Streik, doch Lukaschenko – der seit 1994 im Amt ist – konnte sich mit Müh und Not durch brutale Interventionen seiner loyalen Spezialeinheiten halten, die völlig von ihm abhängig sind, weil an ihren Händen schon vorher das Blut von Unschuldigen klebte. (Letztlich entschied sich Lukaschenko, die Loyalität der Armee nicht auf die Probe zu stellen.)

Keine Rückkehr zur Apathie

Dennoch ist seither klar, dass die Belarussen nicht zu der Passivität zurückkehren werden, die sie vor August 2020 an den Tag gelegt hatten. «Wir haben uns alle verändert, und zwar für immer», sagt Oppositionsführerin Masha Kalesnikowa, die ihren Optimismus nicht verloren hat, obwohl sie seit 23 Monaten im Gefängnis sitzt. Da Lukaschenkos Regime in den Monaten vor der Wahl kaum staatliche Hilfen angeboten oder Medienberichterstattung über die Covid-19-Pandemie zugelassen hatte, wandten sich die Belarussen in Scharen unabhängigen Medien zu, die sie auch heute noch trotz der damit verbundenen drohenden Inhaftierung konsumieren.

Ebenso wie die Ukraine ist auch Belarus Russland kulturell fremd. Deshalb gelang es den Belarussen, im Jahr 2020 mit ihren fortgesetzten Protesten und Forderungen nach Demokratie die Welt zu verblüffen, obwohl die belarussische Gesellschaft einer Sowjetisierung und Jahrhunderten der Russifizierung unterworfen gewesen war. Die Belarussen verhielten sich, als würden sie in einer modernen, demokratischen und liberalen Gesellschaft leben, weil eben viele Belarussen das genau so sehen (obwohl ältere Jahrgänge immer noch unter dem massiven Einfluss Russlands und Lukaschenkos selbst stehen).

Um diese breit angelegte Oppositionsbewegung in Schach zu halten, muss Lukaschenko auf ständige drakonische Repressionen zurückgreifen. Über tausend politische Gefangene wurden zu Haftstrafen von mehr als zehn Jahren verurteilt, und 1500 weitere wurden inhaftiert, weil sie gegen den Krieg in der Ukraine protestiert hatten, unter anderem durch die Sabotage von Eisenbahnlinien zur Behinderung der russischen Armee. Andere wurden gleich an Ort und Stelle mit inoffiziellen Strafen wie einem Gewehrschuss ins Knie belegt.

Warten auf den günstigen Augenblick

Als beispielsweise die 28-jährige Belsat-Reporterin Kazjaryna Andrejewa kürzlich aus dem Gerichtssaal geführt wurde, sagte sie zu ihrem Mann: «Ich habe eine längere Strafe bekommen als Solschenizyn.» Der berühmte russische Dissident wurde nämlich von den Sowjets zu acht Jahren verurteilt, während Andrejewa acht Jahre und drei Monate erhielt.

Belarussen mit Ukrainern zu vergleichen und die gleiche Art von Widerstand zu erwarten, ist ungerecht. In Belarus gibt es keine oppositionellen Abgeordneten im Parlament oder in den Lokalregierungen, wie das in der Ukraine vor der Invasion der Fall war. Auch die Polen protestierten im Jahr 1981 friedlich gegen die Verhängung des Kriegsrechts, weil das der einzige Weg war, Gehör zu finden. Die 10 Mio. Mitglieder zählende Gewerkschaft Solidarność wurde zwar nach sechzehn Monaten geschwächt, aber der Mythos überlebte. 1 Mio. Menschen mag Polen zwar verlassen haben, aber der Rest ist geblieben und hat nicht verlernt, wie Strassenprotest geht.

Die Erfahrungen Polens bieten eine Vorahnung dessen, was auf Belarus zukommen könnte. Die Polen erhielten 1989 ihre Chance auf Unabhängigkeit, weil sie einen kurzen Moment der Unsicherheit im Kreml ausnutzten. In ähnlicher Weise nutzte auch die Ukraine 1991, als die Sowjetunion endlich zusammenbrach, die Gunst der Stunde und erlangte ihre Unabhängigkeit (die Russland seit diesem Zeitpunkt bedroht).

Exilregierung hat bewaffneten Arm

Russlands scheiternder Krieg in der Ukraine könnte bald eine ähnliche Chance für Belarus eröffnen. Seit 2020 hat die belarussische Gesellschaft ihre Werte artikuliert, die Kunst des langfristigen Widerstands erlernt und freie Medien mit Sitz im Ausland geschaffen. Und jetzt bekommen belarussische Dissidenten vielleicht zum ersten Mal überhaupt Waffen in die Hand und beteiligen sich am Kampf gegen Putin in der Ukraine, wo sie für ihren Mut und ihre Erfolge auf dem Schlachtfeld bekannt sind. (Man sollte nicht vergessen, dass die Ukraine 2014 auch über überwiegend freiwillige Bataillone verfügte.)

Am zweiten Jahrestag der Proteste erreichten alle politischen Kräfte eine Übereinkunft, und eine belarussische Exilregierung unter der Führung Tichanowskayas wurde gebildet. Sie setzt sich zusammen aus ihrem Büro in Vilnius, dem Nationalen Anti-Krisen-Management unter der Leitung von Pawel Latuschka, der in Warschau ansässigen Bypol-Initiative bestehend aus ehemaligen Mitgliedern uniformierter Kräfte, der Oppositionsinitiative, der die Cyber-Partisanen angehören, und dem in der Ukraine kämpfenden Pahonia-Regiment. Der während der Proteste vor zwei Jahren ins Leben gerufene Koordinierungsrat, in dem Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch vertreten ist, wird in ein Ersatzparlament umgewandelt.

Eine bemerkenswerte Veränderung liegt in dem Umstand, dass die Exilregierung bereits über einen eigenen bewaffneten Arm verfügt, für den sich mehr als 200’000 Belarussen registriert haben und der bereit ist, sich bei der ersten Gelegenheit gegen Lukaschenko zu erheben – auch mit Gewalt. Bis vor kurzem hatten belarussische Soldaten und Staatsbedienstete keinerlei Alternativen. Doch nun haben sie die Wahl zwischen einer unrechtmässigen Regierung in Minsk und einer im Jahr 2020 durch die Mehrheit der Stimmen gewählten legitimen Regierung unter der Führung Tichanowskayas. Die Entscheidung wird bei entsprechender Gelegenheit zu treffen sein, die sich ergeben könnte, wenn Russlands Demütigung in der Ukraine den Kreml ins Chaos stürzt.

Copyright: Project Syndicate.