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Die grosse Macht der Staatsausgaben

Die Austeritätspolitik im Euroraum vor gut zehn Jahren löste grosse Proteste in Ländern wie Spanien aus.

Im Nachhinein sind natürlich nicht nur die Regierungen im Euroraum schlauer. Wenn es so etwas wie einen grössten Fehler in der Eurokrise vor gut zehn Jahren gab, dann ist es ein Gipfelbeschluss aus dem Sommer 2011. Und wenn die EU-Staaten sich heute neue Fiskalregeln geben wollen, hängen ihnen die Folgen genau dieses Beschlusses noch immer im Nacken.

Unter dem Eindruck der Rettungsprogramme für Griechenland, Irland und Portugal hatten die Staats- und Regierungschefs vor elf Jahren Folgendes beschlossen: Innerhalb von zwei Jahren sollen alle staatlichen Budgetlöcher, die in der Finanzkrise entstanden sind, so weit aufgefüllt werden, wie es die Fiskalregeln des Maastricht-Vertrags für Normalzeiten vorsehen.

«Die öffentlichen Defizite werden in allen Ländern, mit Ausnahme der Programmländer, bis spätestens 2013 auf unter 3% reduziert werden», hiess es wörtlich in der Gipfelerklärung der Eurostaaten. Alle Regierungen sollten gleichzeitig sparen, unabhängig vom Ausgangsniveau und davon, welche Spuren die Finanzkrise konkret in jedem Land hinterlassen hatte.

Die Angst vor der Ansteckung

So gross war die Angst davor, dass ein zweites Griechenland die Währungsunion an den Rand des Zusammenbruchs bringen könnte. Fast überall fürchteten Politiker und ihre Berater, dass auch in ihrem Land eine Kapitalflucht einsetzen könnte, die zwar nicht immer einen gewichtigen Grund haben musste, die aber umso schwerer zu stoppen war – ohne die nationalen Währungen.

Der gesamte Währungsraum wies 2010 noch ein jährliches Defizit der öffentlichen Haushalte von rund 6% des Bruttoinlandprodukts (BIP) aus. Das war zwar viel, aber kein Grund zur Panik an den Finanzmärkten, und erst recht nicht dafür, eine Schuldenkrise auszurufen: Der Schuldenstand stieg von 86% 2010 auf 88% des BIP im Jahr 2011.

Das jährliche Haushaltsloch sank dann aber tatsächlich auf 3% des BIP im Jahr 2013. Im Fokus der Märkte standen vor allem grosse Länder wie Spanien und Italien – die dritt- und viertgrösste Volkswirtschaft des Währungsraums. Zusammen machten sie 28% des BIP der damaligen Eurozone aus.

Allerdings stieg in Spanien das Defizit erst einmal an, von 9,5% des BIP im Jahr 2010 auf 10,7% im Jahr 2012. Italien schaffte es dagegen, das Defizit zu senken – auf den ersten Blick erfolgreich von 4,2% des BIP auf 2,9% im Jahr 2012.

Ausgabenkürzungen setzen ein

Doch was war geschehen? Gewöhnlich verstanden die Regierungen bis dahin unter einem Sparkurs, dass sie das Wachstum der Ausgaben (ohne die schwankenden Sozialleistungen wie Arbeitslosenhilfe) abbremsen oder die Steuern erhöhen.

Direkte Kürzungen der Gesamtausgaben hatte es in der Regel seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr gegeben. Doch mit dem Gipfelbeschluss 2011 sahen sich die Regierungen in Madrid und Rom plötzlich gezwungen, ihre Ausgaben noch weiter einzuschränken.

In Spanien sanken die Ausgaben 2012 um 2,5% des BIP, insgesamt fielen sie fünf Jahre lang bis 2014. In Italien waren es 2012 zwar lediglich 0,6% des BIP, dafür dauerten die Kürzungen genau so lange wie in Spanien.

Dies hatte weitreichende Folgen: Die Investitionen der öffentlichen Hand in Italien sanken von 2009 bis 2014 von 58 Mrd. auf 38 Mrd. €. Notwendige Ausgaben für den Erhalt der Infrastruktur blieben aus, und die Bauwirtschaft rutschte in eine langanhaltende Krise.

Falsche Theorie der «expansiven Austerität»

Allerdings war es nicht nur die Furcht vor den unberechenbaren Finanzmärkten, die zum Gipfelbeschluss des Jahres 2011 führten. Eine weitverbreitete Theorie der damaligen Zeit besagte, dass öffentliche Ausgabenkürzungen für Länder, die sparen müssen, weniger schlimm seien als Steuererhöhungen. Der Ökonom Alberto Alesina war der renommierteste Vertreter dieser These, er behauptete sogar, empirische Belege dafür gefunden zu haben.

Das Stichwort der «expansiven Austerität» machte die Runde. Es besagt, dass die Privatwirtschaft in Erwartung einer geringeren Steuerlast in der Zukunft anfängt, mehr Geld für Investitionen auszugeben.

Diese Theorie stand aber immer auf wackligen Füssen, denn warum sollte die Privatwirtschaft mehr Geld ausgeben, wenn der Staat plötzlich im grossen Massstab seine Aufträge zurückfährt – und darunter das Einkommen in der Privatwirtschaft leidet?

Allein ein Blick auf die direkten Ausgaben für Investitionen und konsumtive Zwecke wichtiger Industrieländer zeigt, dass Alesina die Phasen mit Ausgabenkürzungen nicht wirklich gut identifiziert hatte. Wichtig dabei ist, die Ausgaben ohne zyklische Sozialleistungen zu betrachten.

Denn diese sinken in der Regel in guten Konjunkturphasen und steigen in Wirtschaftskrisen ohnehin. Sinken die Summen für Arbeitslosenhilfe aus konjunkturellen Gründen, wächst entsprechend aber wieder das reguläre Einkommen, das den Rückgang der Sozialleistungen kompensiert.

Zudem tauchen die Sozialleistungen in der Berechnung des Bruttoinlandprodukts der Statistiker niemals direkt auf. Denn das meiste davon wird als Konsumausgaben der privaten Haushalte verbucht.

Falsche Beratung durch Ökonomen

Die direkten Staatsausgaben im BIP (also nur für Investitionen und Konsum) waren bis zur Finanzkrise 2008 in vielen wichtigen Industrieländern aber nur sehr selten gesunken. Das ist keine gute Basis für eine ökonomische Theorie, die der Politik verlässliche Handlungsanweisungen geben will.

Wenn Alesina also Austeritätsphasen ausgemacht hat, waren dies oft Jahre, in denen es am Ende eigentlich «nur» Budgetumschichtungen gab, aber keine aggregierten Kürzungen. Dabei ist eins ökonomisch völlig klar: Wenn überhaupt, gehen Ausgabenkürzungen nur dann glimpflich aus, wenn die Privatwirtschaft boomt. Falls der Staat tatsächlich einmal eine überhitzte Wirtschaft abbremsen will.

Die ausbleibenden Aufträge der öffentlichen Hand lösen aber niemals einen privaten Boom aus, wenn die private Nachfrage die fehlende Nachfrage des Staates erst einmal kompensieren muss.

Die Lehren aus der Grossen Depression

Dabei schien es lange so, dass die europäischen Regierungen bis zur Eurokrise ihre Lektion aus der Weltwirtschaftskrise ab 1929 gelernt hatten. Denn damals verschärfte die Reichsregierung in Deutschland die Weltwirtschaftskrise mit horrenden Ausgabenkürzungen: 1931 und 1932 um nominal jeweils 20%. Schlussendlich ebnete die nachfolgende Massenarbeitslosigkeit den Weg in den Terror der Nationalsozialisten.

Auch in den USA verschärften die Budgetkürzungen – hier allerdings auf Ebene der Bundesstaten – die Banken- und Finanzkrise, die nach dem Börsenkrach von 1929 ausgebrochen war. Es ist sogar gut möglich, dass ohne diese Ausgabenkürzung der staatlichen Haushalte 1932 und 1933 die Grosse Depression ausgeblieben wäre. Denn erst nach vier Jahren Rezession begann der Wert des privaten Kapitalstocks in den USA zu sinken.

Unter dem Kapitalstock verstehen Ökonomen den Wert aller Produktionskapazitäten eines Landes: Maschinen, Fahrzeuge, Fabrikgebäude, Patente und Geräte. Einen schrumpfenden Kapitalstock hatte es in Marktwirtschaften zuvor aber nicht einmal in schweren Rezessionen gegeben, wie sie seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts regelmässig in Form von Konjunkturzyklen auftreten.

Die Depression im Euroraum wirkt nach

Gut 90 Jahre später meldet Griechenland mittlerweile bereits seit 2011 unterunterbrochen einen sinkenden Wert des realen Kapitalstocks – ein Ende ist noch immer nicht in Sicht. Doch damit nicht genug: Auch in Italien schrumpfte der Kapitalwert noch bis 2017, und in Portugal bis 2018 – beide Länder erlebten mit der Pandemie 2020 einen kurzen Rückfall in die Depression. Diese könnte vielleicht vergangenes Jahr zu Ende gegangen sein, wenn sich die jüngste Berechnung der EU-Kommission vom Herbst 2021 bestätigen sollte.

Dass die Austerität nach 2011 keine expansiven Effekte hatte und jede Erholung nach der Finanzkrise im Euroraum abwürgte, lässt sich klar an der Wirtschaftsleistung ablesen: Die USA bauten ihren Vorsprung gegenüber Europa noch mehr aus. Lag das reale BIP der Vereinigten Staaten 2019 kurz vor Ausbruch der Pandemie 22% über dem Stand von 2008, waren es im Euroraum nur 10%. Deutschland kam immerhin auf ein Plus von 15%, die Schweiz auf 19%.

Italien holte dagegen in den Jahren mit schrumpfenden Kapitalstock den Einbruch der Wirtschaftsleistung bis heute nicht auf. Sie lag vor der Pandemie immer noch 3% weiter unten als 2008. Entsprechend hat dies dazu beigetragen, dass die Schuldenquote weiter stieg, obwohl das Land das Defizitziel von 3% des BIP ab 2012 wieder eingehalten hat. Die Verschuldung stieg von 106% im Jahr 2008 auf 135% des BIP 2014 und blieb so hoch bis kurz vor der Pandemie.

Reform der EU-Fiskalregeln

Immerhin: In den Jahren seit Ausbruch der Eurokrise hat die Währungsunion gelernt, ihre Fiskalregeln aufzuweichen, und das, obwohl 2012 eigentlich auf deutsche Initiative mit dem Fiskalpakt das Regelwerk verschärft wurde. Doch zugleich gibt es mittlerweile so weitreichende Ausnahmeregeln, dass bislang keine harschen Reaktionen der Regierungen notwendig geworden sind.

Geholfen hat dabei auch, dass die Europäische Zentralbank seit Sommer 2012 bereitsteht, jede unkontrollierbare Kapitalflucht aus einzelnen Ländern zu stoppen: Rapide steigende Zinsen ohne ersichtlichen ökonomischen Grund versucht die Notenbank seitdem zu verhindern. Zuletzt hat sie dies seit dem Ausbruch der Pandemie erfolgreich demonstriert.

Doch noch immer gibt es Restzweifel, ob die aktuellen Fiskalregeln nicht doch wieder viel zu harsche Reaktionen erfordern, um die Verschuldung der Staaten in den Postcoronajahren zu senken. Bereits vor zwei Jahren hatte die EU-Kommission deshalb einen Reformprozess für die Fiskalregeln in der EU gestartet.

Der Fiskalausschuss der EU, eine von der Brüsseler EU-Kommission eingesetzte internationale Expertenkommission, hat bereits Reformpläne vorgelegt.  Sie beruhen zum Teil auf ähnlichen Vorschlägen führender Ökonomen aus Deutschland und Frankreich. Zentral dabei ist es, die Defizitregel abzuschaffen und jedem Land einen spezifischen Pfad der Schuldenreduktion vorzugeben.

Ausgabenregel statt Defizitziele

Ein sinkender Schuldenstand soll demnach mit einer Ausgabenregel erreicht werden: Die direkten Staatsausgaben (ohne zyklische Sozialleistungen) sollen immer wachsen dürfen, aber langsamer als der langfristige Trend (das Potenzial) des Bruttoinlandprodukts. Die Zielinflation der EZB von 2% stellt dabei immer eine nominale Untergrenze da.

Sinkende Ausgaben des Staates, die zu einem schrumpfenden Kapitalstock der Privatwirtschaft führen, würden dann nur noch für krasse Fälle wie Griechenland vor 2008 vorbehalten sein. Da solche Übertreibungen der öffentlichen Haushalte wie in Athen vor der Finanzkrise derzeit nirgends erkennbar sind, haben die Regierungen im Euroraum jetzt alles in der Hand: Die Fehler der Eurokrise nach dem Gipfelbeschluss vom Sommer 2011 können sie nun nach der Pandemie vermeiden.