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Kaffee mit...

Am Anfang war ein Buch. « ‹Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte› vom Neurologen Oliver Sachs hat mich ­fasziniert, als ich es als Mädchen gelesen habe», erklärt Antonella Santuccione Chadha an einem warmen Sommertag am Bellevue in Zürich. Das Buch aus dem Jahr 1985 schildert Fallbeispiele von Menschen mit neurologischen Krankheiten. Menschen, die das Gedächtnis verlieren, vertraute Personen nicht mehr erkennen oder gewalttätige Ticks entwickeln. «Das Gehirn ist das geheimnisvollste und am wenigsten verstandene Organ, die letzte medizinische Herausforderung. Den Rest können wir mehr oder weniger, wie Herzen, Lunge oder Hände, transplantieren.»

Die Italienerin wechselt im Gespräch immer wieder vom Englischen ins Deutsche und zurück. Ab und zu blitzt auch ihre Muttersprache auf. Beispielsweise auf die Frage, warum sie in die Schweiz gekommen ist. «Non lo so.» Sie wisse es nicht. Dass Santuccione Chadha heute noch in Zürich ist, ist wohl eine Mischung aus Bestimmung und Zufall. «Als ich an der Universität von Hamburg war, erhielt ich ein Angebot für eine Professur aus Rostock. Das wäre aber noch weiter im Norden gewesen.» Zu weit weg von ihrer Familie in Italien. Also ging sie nach Siena in die Toskana.

«Es war wunderschön. Umgeben von Weinreben. Die Hügel. Ein Haus mit zwei Swimmingpools. Es war verrückt. Aber ich fragte mich. Willst du dich bereits zur Ruhe setzen?» Sie war erst Anfang dreissig. Auch vermisste sie die pünktliche und exakte Arbeitsweise von Deutschland sowie das Forschungsniveau. Also entschied sie sich, nach Zürich zu gehen. Doch fast hätte sie der Stadt nach wenigen Jahren den Rücken gekehrt. «Ich konnte kein Deutsch. Entsprechend schwierig war die Kommunikation mit den Patienten der psychiatrischen Abteilung, auf der ich arbeitete. ­Zudem fand ich keine Wohnung, trotz eines guten Jobs. Ich wurde immer gefragt, ob ich verheiratet sei und ob ich aus Italien komme».

Nachdem sie entschieden hatte, die Stadt zu verlassen, traf sie in einer Bar im Seefeld ihren Mann. «Ich sah diese indischen Augen, und mein Herz schlug schneller. Ich konnte kaum sprechen. Das Einzige, was ich herausbrachte, war, dass ich keine Wohnung finden konnte. Er fragte, ob ich meinen Doktortitel benutzt habe. Am nächsten Tag hatte ich vier Angebote.» Heute lebt sie mit ihrem Mann und den beiden Söhnen in Thalwil.

Das Gehirn steht bei der 48-jährigen Neurowissenschaftlerin mit Erfahrung in der klinischen Pathologie und bei psychiatrische Störungen seit über zwei Jahrzehnten im Fokus. Sie hat an Universitäten geforscht (unter anderem Hamburg und Zürich), Patienten betreut (Universitätsspital Zürich), bei der Zulassungsbehörde Medikamente geprüft (Swissmedic) und bei Pharmaunternehmen gearbeitet (Roche und Biogen). Seit Mai dieses Jahres ist sie Chief Medical Officer bei Altoida. Das US-Unternehmen hat mithilfe von künstlicher Intelligenz einen Test entwickelt, der früh Beeinträchtigungen des Gehirns erkennen kann, wie beispielsweise durch Alzheimer.

Über Alzheimer hat sie auch an der Universität Zürich geforscht, im Labor von Roger Nitsch und Christoph Hock. Die beiden haben ein Molekül zur Behandlung von Alzheimer entwickelt. Das daraus hergeleitete Medikament wurde in den USA trotz Kritik an der Effektivität und den Kosten zugelassen. In Europa nicht. Santuccione Chadha unterstreicht trotz den Kontroversen den innovativen Ansatz. «Der Antikörper gelangt über den Blutkreislauf ins Gehirn und attackiert die Alzheimer verursachenden Ablagerungen. Als ich Medizin studierte, hiess es, dass nichts die Blut-Gehirn-Schranke überwinden könne.»

Alzheimer ist ein tückisches Biest. «Ich habe viele Krankheiten gesehen. Auch wie Menschen gestorben sind. Alzheimer ist aber das Schlimmste. Es raubt die Persönlichkeit, zerstört die Familie und dauert lange.» Eine enorme Herausforderung ist auch der Umgang mit Alzheimerpatienten. «Bei Menschen, die Gehirnkrankheiten haben, sieht man oft nicht mehr primär die Person, sondern die Krankheit. Als Angehöriger sollte man nicht wütend werden auf die Person, sondern auf die Krankheit.» Darum hat sie in Büchern analog zu Sachs betroffenen Personen eine Stimme ­gegeben. «Una Bambina Senza Testa» soll gar eine TV-Serie werden.

Santuccione Chadha bezeichnet sich zwar nicht als «Workaholic», sie identifiziere sich aber stark über ihre Arbeit. Dazu passt auch das Womens Brain Project. Eine Non-Profit-Organisation, die sie 2016 mitbegründet hat. Es soll das erste Forschungsinstitut für geschlechtsspezifische Präzisionsmedizin in der Schweiz werden. Die Idee dafür hatte sie bei Swissmedic. «Von zehn Medikamenten, die vom Markt genommen wurden, war es bei acht, weil sie eher bei Frauen als bei Männern tödliche Nebenwirkungen hatten.» Ihr Wunsch ist es, dass Medikamente in Zukunft auf Charakteristika wie Geschlecht, Alter oder Ethnizität zugeschnitten sind.

Santuccione Chadha wurde schon mehrfach ausgezeichnet. Am 1. September könnte dies erneut der Fall sein. Sie ist für den Veuve Clicquot Bold Woman Award nominiert. Für sie ist das aber sekundär. «Der Sinn des Lebens ist für mich nicht, Geld zu verdienen oder Erfolg zu haben, sondern etwas Sinnvolles für die Welt zu machen.» Bei Altoida und dem Womens Brain Project hat sie dafür die besten Voraussetzungen.