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Russlands grösster Demokrat

«Wir alle brauchen eine Perestroika», sagte Michail Gorbatschow oft. Der letzte Staatschef der Sowjetunion lebte nach diesem Credo. Nachdem er 1985 Generalsekretär der Kommunistischen Partei geworden war und sein Programm der Umstrukturierung und Glasnost (Offenheit) umgesetzt hatte, änderte er sogar seine Amtsbezeichnung und zog es vor, Präsident genannt zu werden.

Der erste und letzte sowjetische Präsident war der demokratischste Führer, den Russland (das faktische Zentrum der UdSSR) im letzten Jahrhundert, wenn nicht überhaupt jemals, hatte. In den 31 Jahren seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion blieb sein Glaube an Frieden, gegenseitiges Verständnis, Dialog und Demokratie unerschütterlich.

Es waren diese Werte, die Gorbatschow dazu veranlassten, die Sowjetunion aus einem jahrzehntelangen katastrophalen Krieg in Afghanistan zurückzuziehen und 1993 das Geld seines Friedensnobelpreises von 1990 zur Finanzierung der «Nowaja Gaseta» zu verwenden, dem Flaggschiff der russischen Demokraten, dessen Herausgeber, Dmitri Muratow, im vergangenen Jahr seinen eigenen Friedensnobelpreis erhielt. Zusammen mit Dutzenden anderer unabhängiger Medien war die «Nowaja Gaseta» gezwungen, ihren Betrieb einzustellen, kurz nachdem Präsident Wladimir Putin im Februar seine «spezielle Militäroperation» in der Ukraine gestartet hatte.

An der Rettung der UdSSR gescheitert

Auch Gorbatschow hat für seine Überzeugungen gelitten. Wäre er 1991 gestorben, hätten sich die Menschen damals vielleicht mit der Bewertung seines Platzes in der Geschichte beschäftigt. Angesichts des lebenden, atmenden Gorbatschow herrschten jedoch Feindseligkeit und peinliches Schweigen. Wenn jahrelang überhaupt über ihn gesprochen wurde, dann meist, um seine Leistungen zu leugnen.

Als er die Perestroika einleitete, die heute von vielen in Russland, einschliesslich Putin, als Katastrophe angesehen wird, setzte sich Gorbatschow der Kritik aus allen Richtungen aus: Er sei zu radikal, zu konservativ oder zu schwach. Aber er floh nicht vor der öffentlichen Kritik. Selbst durch Alter und Krankheit geschwächt, stellte er sich ihr weiterhin als Direktor der Gorbatschow-Stiftung, deren Arbeit seine Werte verkörperte.

Wie Putin war auch Gorbatschow der Meinung, dass es besser gewesen wäre, wenn die UdSSR fortbestanden hätte. Doch im Gegensatz zu Putin schwebte ihm eine reformierte, demokratisierte Föderation vor und nicht ein Zusammenschluss von Nationen, die sich unwillig der Herrschaft des Kremls unterwerfen.

Zu Hause Antipathie…

In den 2000er Jahren erklärte mir Gorbatschow, warum er 1989 keine Panzer nach Deutschland schickte, um die Zerstörung der Berliner Mauer zu verhindern (die 1961 auf Befehl meines Urgrossvaters Nikita Chruschtschow gebaut wurde). «Wir sollten souveränen Ländern nicht ihre Lebensweise diktieren», sagte er.

Gorbatschow war teilweise selbst schuld an der Antipathie, die ihm nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion entgegengebracht wurde. Reformern fehlt es oft an Geduld, und sein Plan für weitreichende wirtschaftliche Veränderungen in nur 500 Tagen war ebenso utopisch wie Chruschtschows Versprechen von 1961, den «entwickelten Kommunismus» in 20 Jahren zu schaffen.

Was Gorbatschow von anderen russischen Führern unterschied, war, dass er die Verantwortung für die Folgen seiner Herrschaft übernahm. Chruschtschow und Gorbatschows Nachfolger Boris Jelzin (übrigens die einzigen anderen russischen Staatsoberhäupter, die vor ihrem Tod von der Macht verdrängt wurden oder sie freiwillig abgaben) taten dies zwar auch, aber sie zogen sich ganz aus der Öffentlichkeit zurück und schimpften insgeheim über all das, was sie nicht erreicht hatten. Gorbatschow hingegen zog gemeinsam mit Historikern, Politikern, seinen eigenen Weggefährten und der Öffentlichkeit Bilanz über seine Herrschaft. Ironischerweise trug er dazu bei, sich noch zu Lebzeiten als historische Figur zu begraben.

…im Ausland hohes Ansehen

Während man sich in Russland einig ist, dass Gorbatschows Reformen allesamt fehlgeschlagen sind oder an seinen schlechten Entscheidungen scheiterten, wird sein Vermächtnis international ganz anders wahrgenommen – und das zu Recht. Das letzte Jahrzehnt des 20. und das erste Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts waren die Blütezeit der Globalisierung, was zum grossen Teil auf Gorbatschows Bemühungen zurückzuführen ist, die Welt zu umarmen, ein «neues politisches Denken» zu etablieren und Russlands übliches Misstrauen und Feindseligkeit gegenüber der Aussenwelt abzubauen.

Als ein Mann mit Gewissen, der seine Führungsrolle von ausserhalb des Kremls reflektierte, war Gorbatschow bestrebt, die Probleme anzugehen, für die er sich verantwortlich fühlte, darunter wirtschaftliche Not und politische Instabilität. Obwohl seine Position schwach war, lohnte es sich zumindest für einige Russen (wie mich), dass er in den Präsidentschaftswahlen von 1996 kandidierte. Die Bewerbung Jelzins in jenem Jahr, in dem das Chaos noch grösser war als in der Sowjetunion, hat nur wenige begeistert.

Es wäre schade gewesen, wenn ein so aufregendes Ereignis (in Russland war es neu, einen Präsidenten zu wählen, und die Neuheit vermittelte eine festliche Atmosphäre) nur eine weitere Gelegenheit gewesen wäre, seine Unzufriedenheit zu äussern. Ich habe nie geglaubt, dass Gorbatschow eine ernsthafte Chance hatte, die Wahl zu gewinnen, oder dass er ein guter Präsident sein würde. Aber er war der erste Präsident in der russischen Geschichte, dem es gelang, als Kandidat wieder aufzutauchen, nachdem man jahrelang versucht hatte, ihn zu begraben, und der in der Lage war, sowohl als Führungsperson der Vergangenheit als auch als Stimme für die Zukunft zu sprechen.

Trotz allem optimistisch

Davon konnte der pensionierte Chruschtschow nach seiner Entlassung aus dem Kreml im Jahr 1964 nur träumen. Vor seinem Tod, als er genügend Zeit hatte, über die Vergangenheit nachzudenken, kam mein Urgrossvater zum Schluss, dass seine grösste Errungenschaft nicht die Politik des «Tauwetters» war – die Anprangerung der Verbrechen Stalins, verbunden mit einer gewissen politischen und kulturellen Liberalisierung –, sondern seine eigene Absetzung durch eine einfache Abstimmung. Er wurde weder zum «Volksfeind» erklärt noch in den Gulag verbannt, sondern einfach zu einem «verdienten Ruhestand» auf seiner Datscha gezwungen; er wurde nach seinem politischen Ableben nicht physisch liquidiert, wie es in den 1930er Jahren sicherlich der Fall gewesen wäre. Dennoch bedauerte Chruschtschow seinen mangelnden Mut und wünschte sich, er hätte die Zeit genutzt, um sein Tauwetter weiter voranzutreiben.

Fünfundzwanzig Jahre später vollzog die russische Geschichte diese liberale Wende. Tod und Untertauchen waren nicht mehr die einzigen Optionen. Der politische Tod war zu einer Frage der Wahl geworden. Wenn Gorbatschow 1996 auch keine Chance hatte, zu gewinnen, so hatte er doch zumindest die Möglichkeit zu kandidieren. Perestroika und Glasnost, die heute so verhöhnt werden, bereiteten den Boden dafür unter Jelzin, der zwar kein Fan seines sowjetischen Vorgängers war, aber demokratisch genug, um den Geist des Wandels zu bewahren.

Mit der Invasion in der Ukraine und der Zerstörung der Medien, die durch die Glasnost möglich wurde, scheint Gorbatschows Erbe heute tot zu sein. Gorbatschow selbst war jedoch optimistischer. Er wies oft darauf hin, dass er ein Produkt von Chruschtschows Tauwetter war, und er würde uns zweifellos ermutigen, daran zu glauben, dass eines Tages ein neuer Führer in Russland auftauchen, eine neue Perestroika einleiten und die Werte, denen er sein Leben gewidmet hat, wieder aufleben lassen wird.

Copyright: Project Syndicate.