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Saporischschja – Kern der Demokratie

Das Kernkraftwerk Saporischschja ist das grösste Europas – und es liegt an der Front: Am Unterlauf des Dnipro, wo die ukrainischen Truppen die russische Soldateska sperren. Ukrainisches Personal hält die Anlage mit Mühe am Laufen, unter den Bajonetten der Eindringlinge. Auch unter Feuer: Mitunter schlagen Granaten ein, von welcher Seite auch immer. Das kann fatale Folgen haben. «Die Welt ist eine Pulverfabrik, in der das Rauchen nicht verboten ist»: Friedrich Dürrenmatt würde das heute erst recht so sagen. Erinnerungen an Tschernobyl 1986 werden wach. Dort, bloss gut 500 km weiter nördlich, führte sowjettypische Schlamperei zum Debakel; nunmehr ist es ein sowjetnostalgischer Eroberungsfeldzug. Dabei verdiente die etwa 50 km nordöstlich der Meiler gelegene Stadt Saporischschja (was heisst: unterhalb der Stromschnellen) ein anderes Image als das einer bedrängten Festung und Namensgeberin eines nuklearen Gefahrenherds.Ausgerechnet dort, in der einst schier herrenlosen Steppenlandschaft, im Niemandsland, wo die Macht Polen-Litauens, des Zaren und der Hohen Pforte ausfranste, wurde 1710 erstmals die Idee der Gewaltenteilung in einer Verfassung festgeschrieben: vier Jahrzehnte bevor Montesquieu sie in «L’Esprit des Lois» ausformulierte, acht Jahrzehnte bevor sie in die amerikanische Verfassung einfloss.

Damals gab es dort die «Saporoger Sitsch», eine staatsähnliche Organisation der Kosaken, freier, kriegerischer, widerborstiger Bauern, die den Feudalherren der umliegenden Mächte entlaufen waren. Auf der Flussinsel Chortyzja bei der heutigen Grossstadt Saporischschja findet sich eine historisch-kulturelle Gedenkstätte (noch; Putins Schergen würden sie bestimmt gleich abfackeln).

Das Oberhaupt der Kosaken war der Hetman, abgeleitet vom deutschen Hauptmann. 1710 wurde Pylyp Orlyk zum Hetman der Saporoger Kosaken bestimmt. Am Tag seiner Ernennung legte er einen Verfassungsentwurf vor (in ukrainischer und in lateinischer Sprache), der u. a. die exekutiven Befugnisse des Hetmans – erkoren von der demokratisch gewählten Hauptversammlung der Kosaken – einschränkt. Die Verfassung sah ein Kosakenparlament vor, das dreimal im Jahr zusammentreten sollte.

Das Dokument ist, wie das Saporischschjer Hetmanat, nahezu vergessen, ausser in der Ukraine selbst, wo es einen Status hat wie vielleicht hierzulande die Bundesbriefe im Schwyzer Archiv. Orlyk war der Nachfolger des berühmten Iwan Masepa, der in der Literatur (Voltaire, Byron, Hugo) und der Musik (Tschaikowski, Liszt) weiterlebt. Masepa hatte sich gegen die immer rigidere Einengung der Wehrbauernrechte durch Zar Peter, an dessen Seite er zuvor gestanden hatte, zu wehren begonnen und sich mit Schweden verbündet. In der Schlacht von Poltawa, in der zentralen Ukraine, siegte aber anno 1709 Peter.

Masepa und seine Getreuen flohen zum Pascha von Otschakiw, am Schwarzen Meer. So kam es, dass Orlyks Verfassung im damals osmanischen, heute transnistrischen Bender gegeben wurde, im Exil also. In der Präambel ist das Bündnis des Hetmanats mit Schweden als notwendig festgehalten, um die Unabhängigkeit von Russland zu sichern, desgleichen die Anti-Zar-Allianz mit dem Khanat der Krim. Der Hetman war verpflichtet, mithilfe der Verbündeten die Russen aus den Saporischschja-Gebieten zu vertreiben.

Orlyk gelang das nicht; gegen Russlands Imperialismus war kein Kraut gewachsen – damals. In der Ukraine wird Orlyk, der Verfassungsvater ohne Land und Volk, als Patriot verehrt. Masepa noch mehr; er ziert die Zehn-Hrywen-Note.

Das Prinzip der Gewaltenteilung ist für jeden zivilisierten Staat elementar, wiewohl nicht überall mustergültig umgesetzt, aber immerhin ansatzweise. Andernorts kann davon ernsthaft keine Rede sein. In Russland mag es zwar dem Namen nach Institutionen geben – Parlament, Justiz –, doch das ist nur Charade. Das Sagen hat, wie fast eh und je, immer noch bloss einer. 312 Jahre nach Orlyk.