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Soll das Steuerrecht auf den Teilzeit-Trend reagieren?

Teilzeitarbeit steht bei den jüngeren Generationen im Moment hoch im Kurs. Doch wer weniger arbeitet, entrichtet auch weniger Steuern. Teilzeiterwerbende tragen damit weniger an den Staatshaushalt bei als Vollzeiterwerbstätige. Dabei fällt die Steuerersparnis überproportional aus, denn die Steuern sinken wegen der progressiven Tarife stärker als das Einkommen. Das sorgt für Unmut. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob das Steuerrecht auf den Teilzeit-Trend reagieren kann und muss. Der radikalste Weg bestünde darin, nicht mehr auf das erzielte, sondern auf das hypothetisch erzielbare Einkommen abzustellen. Doch lässt sich ein solcher Ansatz in die Wirklichkeit überführen, oder bleibt es am Ende beim fiskalistisch motivierten Wunsch?

Die Einkommenssteuer wird derzeit auf Basis des effektiv erzielten Einkommens (Ist-Einkommen) veranschlagt. Ein Wechsel von der Ist- zur Soll-Besteuerung würde bedeuten, dass Bemessungsgrundlage nicht mehr das Erworbene, sondern das Erwerbbare wäre. Dadurch liessen sich zweifelsohne Anreize schaffen für Mehrarbeit. Handkehrum kann der Pflichtige bei hohem Einkommen und niedrigem Arbeitspensum die Steuern aus dem erzielten Einkommen womöglich kaum oder gar nicht mehr bestreiten.

Besteuerung des Soll-Einkommens

Fraglich ist, ob eine Besteuerung des Soll-Einkommens rechtlich vertretbar wäre. Das geltende Einkommenssteuerrecht basiert auf dem Ist-Prinzip. Steuerbar ist das tatsächlich erwirtschaftete Einkommen. Ein Wechsel hin zur Besteuerung des Soll-Einkommens würde eine grundsätzliche Umgestaltung des Einkommenssteuerrechts erfordern, einschliesslich einer Nachjustierung der Tarifverläufe und der Steuersätze.

Das Ist-Prinzip ist aber nicht nur gesetzlich vorgegeben, sondern hat auch einen verfassungsrechtlichen Hintergrund, nämlich den Grundsatz der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit. Der Wechsel zur Soll-Besteuerung würde eine grundsätzliche Neuinterpretation des Leistungsfähigkeitsprinzips erfordern. Das zugeflossene Einkommen gilt bislang als sicherster Gradmesser der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit. Der Nettozufluss von Vermögen erhöht die individuelle Leistungsfähigkeit nachweislich. Denn (nur) über das, was ihm zufliesst, kann der Einzelne effektiv verfügen, und nur diese Mittel kann er letztlich auch zur Begleichung der Steuern einsetzen. Am Ende nützt es wenig, wenn den Pflichtigen Steuern auf Basis hypothetischer Einkünfte auferlegt werden, zu deren Erfüllung sie faktisch nicht imstande sind.

Soll neu auf das hypothetische Einkommen abgestellt werden, müsste man es zuverlässig ermitteln können, denn sonst ist keine rechtsgleiche Behandlung der Steuerpflichtigen gewährleistet. Das Anknüpfen am Soll-Einkommen erscheint nur unter zwei Voraussetzungen gerechtfertigt: Erstens muss der Einzelne das Mehreinkommen tatsächlich erzielen können, und zweitens muss ihm dies auch zumutbar sein. Dabei stellen sich etwa folgende Fragen: Wie viel Arbeit ist einer Mutter mit zwei Kindern zumutbar? Ändert sich an der Beurteilung etwas, wenn die Mutter alleinerziehend ist? Muss ein Lehrer, der in der Privatwirtschaft ein höheres Einkommen erzielen könnte, umsatteln – obschon die Gesellschaft aus seiner jetzigen Tätigkeit ebenfalls einen Nutzen zieht? Ist von einem Nachwuchswissenschaftler zu verlangen, dass er neben seiner Anstellung bei einem Forschungsbetrieb einem Nebenerwerb nachgeht, auch wenn Forschungsstellen üblicherweise nur in Teilzeit angeboten werden? Schon theoretisch scheint es kaum möglich, hier sinnvolle Massstäbe zu entwickeln.

Praktisch nicht durchführbar

Das Vorhaben muss aber erst recht in der Praxis scheitern. Die umfangreichen Abklärungen, die ein Systemwechsel erforderte, kann das Steuerrecht als Massenfallrecht nicht leisten. Die Steuerverwaltungen müssten Heerscharen von Psychologen, Ärzten, Biologen – am Ende helfen vielleicht nur Wahrsager – auf die Steuerpflichtigen losschicken, schon nur um das individuelle Potenzial abzuklären. In die Bredouille käme man jedenfalls bei den selbständig Erwerbstätigen. Es ist kaum anzunehmen, dass ein Einzelunternehmer einräumt, hinter seinem Potenzial zurückzustehen, nur um dann auf Basis eines hypothetisch höheren Einkommens resp. Gewinns besteuert zu werden.

Konsequenterweise müsste der hypothetische Massstab ausserdem nicht nur beim Einkommen aus Arbeit, sondern bei allen Einkünften gelten. Bei Vermögensanlagen wäre demnach jeweils zu prüfen, ob nicht eine andere Anlage – oder überhaupt eine Anlage (man denke an das Geld unter dem Kopfkissen) – ertragreicher gewesen wäre. In extremis bedeutet dies, dass Anlagestrategien wohl jeweils vorab mit den Steuerbehörden abgesprochen werden müssten und abermals ein Grossaufgebot an Ökonomen und Finanzspezialisten nötig wäre, um das hypothetische Einkommen zu ermitteln.

Mit einem Wechsel von der Ist-Besteuerung zur Soll-Besteuerung stiege der Abklärungsaufwand für die Steuerbehörden ins Unermessliche, ebenso deren Ermessensspielraum. Die Rechtssicherheit erlitte dadurch einen massiven Schaden.

Ein Wechsel zum Soll-Prinzip wirft weitere diffizile Fragen auf. So erscheint es mit Blick auf die verfassungsmässigen Freiheitsrechte heikel, wenn der Einzelne faktisch gezwungen ist, seine Erwerbstätigkeit auszudehnen oder einen anderen Beruf auszuüben, um die auf Basis des Soll-Einkommens ermittelte Steuerpflicht zu erfüllen. Problematisch erscheint die Soll-Besteuerung weiter mit Blick auf das Diskriminierungsverbot, denn sie wirkt sich tendenziell zulasten der ohnehin schon «Schwachen» aus. Es ist offensichtlich, dass vor allem Teilzeitbeschäftigte von der Soll-Besteuerung betroffen wären. Das wiederum sind zu zwei Dritteln Frauen. Handkehrum würde die Soll-Besteuerung hier natürlich Anreize setzen, was auch im Interesse der Fachkräftepolitik läge.

Soll-Einkommen nur für die Satzermittlung

Ein anderer, milderer Ansatz bestünde darin, das Soll-Einkommen nicht als Bemessungsgrundlage zu nehmen, sondern lediglich als Basis für die Satzermittlung. Auch dies hätte eine deutliche Erhöhung der Steuerlast bei Teilzeitarbeit zu Folge, jedoch immer in Relation zum erzielten Einkommen. Da aber auch hier das Soll-Einkommen ermittelt werden müsste, sind die Unwägbarkeiten in rechtlicher und faktischer Hinsicht dieselben. Auch dieser Weg kann daher nicht zielführend sein. Die Einführung einer Flattax wiederum dürfte im Moment politisch nicht mehrheitsfähig sein.

Das Steuerrecht ist auf die wirtschaftlichen Realitäten und Effekte ausgerichtet, ohne den steuerauslösenden Tatbestand rechtlich oder moralisch bewerten zu wollen. Es kann nicht die Aufgabe des Steuerrechts sein, den Bürger zu disziplinieren, ihn gleichsam im Interesse der Staatskasse zur Strebsamkeit zu erziehen. Wie gesagt nützt es zudem wenig, wenn Steuern auf Basis hypothetischer Einkünfte ermittelt werden, zu deren Erfüllung die Pflichtigen schlicht nicht in der Lage sind. Das Steuerrecht als Teil der Eingriffsverwaltung eignet sich mithin nicht, die mit dem «Teilzeit-Trend» verbundenen gesellschaftlichen Herausforderungen zu meistern. Anders mag es sich im Bereich der Leistungsverwaltung verhalten. Es scheint nicht per se abwegig, staatliche Leistungen für Untüchtige zu kürzen oder zu verteuern, man denke etwa an die Verbilligung von Krankenkassenprämien oder an das Bildungsangebot. Aber auch das ist ein weites Feld.