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Sturm auf das US-Parlament war nur der Anfang

Am Donnerstag vor einem Jahr stürmte ein wütender Mob das US-Parlament, in dem damals von den Abgeordneten die Wahl Joe Bidens zum Präsidenten beglaubigt wurde. Sein Amtsvorgänger Donald Trump hatte die Menge angestachelt. Bis heute behauptet er, der Wahlsieg sei ihm gestohlen worden. Dass er zu keiner Zeit auch nur einen Fetzen an Beweis dafür beibringen konnte und noch jedes Gericht jede Klage diesbezüglich abgeschmettert hat, spielt für ihn und seine Anhänger keine Rolle. Gemäss einer Umfrage des Forschungsunternehmens Ipsos glauben 71% der Republikaner seinen falschen Behauptungen.

Justizbehörden und ein Parlamentsausschuss klären die Hintergründe und die Verantwortung Trumps bis heute ab. Über siebenhundert Personen sind bisher angeklagt worden, über dreissig zu Haftstrafen verurteilt. Am Jahrestag wird das Parlament, in dessen beiden Kammern die Demokraten derzeit die Mehrheit haben, eine Gedenkveranstaltung abhalten. Donald Trump wird zeitgleich an einer Medienkonferenz seine Lügen wiederholen. Er wird seine Anhänger für die Zwischenwahl des Parlaments im November anheizen. Es wird eine der denkwürdigsten der US-Geschichte werden, und kaum ein Ausgangsszenario lässt auf eine bessere Zukunft hoffen.

Keine Kompromisse

Sollten die Demokraten ihre Mehrheit verteidigen, wird Trump die Wahl erneut als manipuliert bezeichnen, und seine Anhänger werden ihm wohl wieder glauben. Zurzeit sieht es aber so aus, als würden die Republikaner die Mehrheit mindestens in einer der beiden Kammern des Kongresses zurückerobern. Bidens Umfragewerte sind historisch schnell abgestürzt. Seinen Leistungsausweis belasten der chaotische Abzug aus Afghanistan, die immer noch währende Pandemie und eine Inflation auf Vierzigjahreshoch. Eine Wahlniederlage der Präsidentenpartei zwei Jahre nach Amtsantritt wäre an sich nicht schlimm und schon gar nicht selten. Den meisten Vorgängern Bidens ist es so ergangen. Das hegt die immense Macht des Präsidenten ein, verunmöglicht eine längerfristige Einparteiherrschaft und zwingt zu notwendiger überparteilicher Kompromissfindung.

Letztere ist in Washington in den vergangenen Jahrzehnten aber zunehmend selten geworden und gilt heute als so gut wie ausgestorben. Die Stimmung zwischen den Lagern ist vergiftet und hasserfüllt. Holen die Republikaner im November die Mehrheit, werden sie den Ausschuss betreffend den 6. Januar wohl auflösen. Darauf spekulieren Trumps ranghohe Helfershelfer, die bereits unter Strafandrohung vor den Ausschuss zitiert wurden, die Kooperation aber verweigern. Ihre Loyalität gilt allein Trump. Republikanische Amtsträger, die es wagen, nicht uneingeschränkt auf Linie zu sein, werden diffamiert und meist erfolgreich durch Getreue ersetzt.

Als wäre die Abkehr der Republikanischen Partei von den demokratischen Gepflogenheiten nicht schon schlimm genug, könnten selbst die Demokraten im November die Rechtmässigkeit der Wahl in Zweifel ziehen, und zwar mit Verweis auf die Verschärfungen der Wahlgesetze in den republikanisch dominierten Teilstaaten der USA. In 41 davon haben republikanische Abgeordnete seit dem 6. Januar Hunderte Vorlagen lanciert, die im Endeffekt den Zugang zur Urne erschweren sollen. Dies vor allem für Minderheiten, die zuletzt mehrheitlich für die Demokraten stimmten. Fast drei Dutzend dieser Vorlagen sind zu Gesetzen verabschiedet worden, was einigen republikanisch dominierten Teilstaaten nun neu das Recht einräumt, Wahlergebnisse ihres Stimmvolks per Parlamentsbeschluss für nichtig zu erklären. Was der Mob am 6. Januar nicht geschafft hat, dafür schaffen seither Politiker die Grundlage.

Aushöhlung des Wählerwillens

Die Wahlen im November werden aber nur ein Vorgeschmack auf die Präsidentschaftswahl 2024 sein. Es gilt als nahezu sicher, dass Trump nochmals antreten wird. Verliert er, wird er wieder behaupten, die Wahl sei gestohlen worden, ein neuer 6. Januar droht dann. Gewinnt er, könnten sich die Demokraten so weit radikalisieren, dass sie selbst der Wahl jegliche Legitimität absprechen – erst recht, wenn republikanisch dominierte Teilstaatsparlamente missliebige Ergebnisse umdeuten. Sollten die Republikaner 2024 auf welchem Wege auch immer die Mehrheit im Kongress erlangen, könnten sie auch schlicht versuchen, Trump per Parlamentsbeschluss zum Sieger zu erklären. Sollten am Ende die Demokraten in der einen, die Republikaner in der anderen Kammer die Mehrheit haben, könnten beide versuchen, ihren jeweiligen Kandidaten zu ratifizieren.

Das sind alles potenzielle Konflikte, für die die Verfassung keine Lösungen vorsieht. Massenproteste, gewaltsame Ausschreitungen bis hin zur Loslösung einzelner Teilstaaten halten die Politikberater von Eurasia Group dann für möglich. Übertrieben? Fast 70% der Amerikaner glauben gemäss Umfrage des Meinungsforschungsinstituts YouGov, dass der 6. Januar kein Einzelfall war, sondern ein Vorbote zunehmender politisch motivierter Gewalt. 34% der Amerikaner sind gemäss einer Umfrage der Universität Maryland der Ansicht, dass Gewalt gegen den Staat gerechtfertigt sei. Millionen von Amerikanern wünschen sich heute schon einen gewaltsamen Sturz der Regierung. Mitte Dezember haben drei pensionierte US-Generäle öffentlich gewarnt, Biden solle sich auf den Versuch eines Staatsstreichs vorbereiten, der den 6. Januar wie einen Kindergeburtstag aussehen lassen würde. Tausende Bürgermilizionäre hielten sich unter Waffen dafür bereit.

Eine Gesellschaft kann innerlich zerstritten sein. Streit ist nichts Schlechtes, schon gar nicht der politische, der bringt meist Fortschritt. Gefährlich aber wurde es in der Geschichte immer, wenn im Streit gemeinsame Glaubensgrundsätze einer Gesellschaft nicht mehr von der Mehrheit geteilt wurden und wenn die Elite sie nicht mehr achtete. Im Fall der USA erodiert gerade auf breiter Front das gesellschaftliche Vertrauen in die Rechtmässigkeit demokratischer Wahlergebnisse. Um das Schlimmste zu verhindern, muss die Führung der Republikanischen Partei deshalb endlich mit Trump brechen, auch auf die Gefahr einer Spaltung der «Grand Old Party» hin. Die Demokraten müssen ihrerseits jetzt ihre Parlamentsmehrheit nutzen und das geplante nationale Wahlgesetz verabschieden, das demokratische Wahlen, die den Namen verdienen, auch vor Eingriffen der Teilstaaten schützen könnte. Denn ohne sie und ohne die gesellschaftliche Achtung ihrer Ergebnisse stirbt die Demokratie.