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Die Geschichte legt keine Fesseln an

Manche Werke lesen sich sogar dann noch mit Gewinn, wenn sie widerlegt sind – oder erst recht dann. Francis Fukuyamas These vom «Ende der Geschichte» etwa, verfasst in der Hochstimmung von 1989, wirft ein Licht auf die Zeit des Zusammenbruchs des Sowjetkommunismus und der Entwicklung seither, die eben nicht alternativlos (wie die später kreierte dümmliche Wendung lautet) in den liberal verfassten ewigen Frieden geführt hat. Ein weiterer Klassiker, der just in seinen Fehlschlüssen lehrreich bleibt, ist der 1996 veröffentlichte «Kampf der Kulturen» von Samuel Huntington: Es ist keineswegs zwangsläufig, dass sich die Welt in Zivilisationskreise gruppiert, die ihrer  Natur nach dazu verdammt sind, einander auf alle Zeiten zu misstrauen, zu belauern, zu bekriegen.

Solche Schriften enthalten Wahres, das sich gerade in der Gestalt des Irrtums offenbart. Nicht nur für den Westen war es ab 1989 wünschenswert, dass sich alle mittel- und osteuropäischen Länder, Russland einschliesslich, in einem liberalen Sinn modernisiert hätten. Heute wiederum ist Huntington aktuell, denn der Konflikt zwischen dem Westen und Russland trägt Züge eines Kulturkriegs. Doch eben nicht, weil es schicksalhaft so sein muss, vielmehr weil es Putin und seine Komparsen so wollen.

In der Tat haben sich in der Geschichte zwei Varianten Europas entwickelt, die westlich-lateinische und die östlich-orthodoxe. Vereinfacht gesagt: Je weiter östlich, besonders in byzantinisch geprägten Landen, desto weniger (falls überhaupt) oder allenfalls später kam es zu Phänomenen wie Dualismus Kirche-Krone, Humanismus, Renaissance, Reformation, Aufklärung, Seefahrt und Kolonisation (mit allen Übeln), zu den Ideen der amerikanischen und der französischen Revolution, zur industriellen Revolution. Das aber ist der Humus, auf dem die westlichen Gesellschaften gewachsen sind.

Putins fatale Fixierung

Gerade in Russland hat vieles davon nicht oder nur marginal stattgefunden, mit erkennbaren Folgen. Ein selbstbewusstes Bürgertum ist dort nie entstanden, freie Meinungsbildung, repräsentative Demokratie mit regelmässiger Wahl bzw., noch wichtiger, Abwahl, unabhängige Institutionen, Gewaltentrennung, Rechtsstaat – generell: das Prinzip der Kritik und der Konkurrenz in Gesellschaft und Wirtschaft – hat Russland bestenfalls episodisch erlebt: Vor der bolschewistischen Machtergreifung 1917, in den 1990er Jahren unter Jelzin.

Das sind Feststellungen, keine Vorwürfe; jede Nation hat an ihrer Geschichte zu tragen, mithin ist sie eine schwere Hypothek. Sie erhellt zwar die Gegenwart – ohne sie zu entschuldigen –, doch sie determiniert die Zukunft eines Landes keinesfalls einfach so. Jede Nation ist zwar Gefangene ihrer Geografie – die russische ist eurasisch –, doch eben nicht unentrinnbar gekettet an ihre historische Herkunft: Die Zukunft ist offen.

Diktator Putin sieht das anders. Er betreibt eine  grossrussische Geschichtspolitik, die zurückgreift auf den zaristischen Imperialismus eines Peter oder einer Katharina (beide, eben, mit Zunamen «Gross»): möglichst viel «russische Erde» sammeln, was die Nachbarn dauernd quält, unterjochtes Gebiet rabiat russifizieren, das Ganze adeln durch Verachtung des Westens: Dessen kulturgeschichtliche Prägung wird als dekadent verhöhnt. Dem zu Fügsamkeit abgerichteten Volk wird eingepeitscht, ein aufgepepptes Zarentum entspreche seiner Bestimmung, dem Reich stehe die Rolle als kontinentaler Schulhofrüpel zu, Verwestlichung sei des Teufels.

Hier ist einzufügen, dass das Bild nie schwarz-weiss ist. Lateineuropäische Historie impft nicht narrensicher gegen Rückfall. Eine Nation wie die deutsche sank 1933 in blutigste Barbarei ab: Der Firnis der Kultur ist dünn. Heute präsentieren sich viele westliche Gesellschaften verunsichert und wertvergessen, was sich im politischen Spitzenpersonal, gerade in Europa, verkörpert – «Die Biedermänner und der Brandstifter», so liesse sich die gegenwärtige Tragödie betiteln. Reaktionäre Imperialisten wie Putin oder der Gernegross Erdogan können auf mancherlei närrische Zeiterscheinungen verweisen, wenn sie ihr eher handfestes heimisches Publikum gegen westliche Überspanntheiten mobilisieren. Manche Spleens in Nordamerika und Europa sind geradezu Rückfälle hinter die Aufklärung.

Es liegt auf der Hand, dass Putins Ablehnung des westlichen Staats- und Gesellschaftsentwurfs auch Kalkül ist: Er kann ihn ja gar nicht (mehr) begrüssen, sonst wären seine Herrschaft und sein, wie getrost anzunehmen ist, beachtlicher persönlicher Reichtum in Gefahr. Irgendwann, vielleicht gleich zu Beginn, hat er beschlossen, Russland vom Westen abzuwenden statt ihm anzunähern. Ob Putin wirklich restlos überzeugt ist von seinem Messianismus oder ob der nicht bloss Mittel zum Zweck ist? Ob die marxistische Indoktrinierung – sein Erwerbsleben beschränkte sich auf KGB-Schnüfflerdienste – den Glauben an historische Mechanik hinterlassen hat? Schwer zu sagen; es ist auch unerheblich. Diktatoren sind entsetzlich langweilige Geschöpfe. Es zählt kaum, was sie glauben (im Grunde nur an ihre Macht), sondern vielmehr, was sie anrichten.

Die gesellschaftlich-politische Entwicklung der Ukraine hat den Kreml zweifelsfrei zutiefst beunruhigt. Das Nachbarland, das Putin und seine Kumpane ohnehin nie für voll genommen haben, hat sich auf einen langen, holprigen Weg in Richtung Demokratie und Marktwirtschaft, einer offeneren, freieren Gesellschaft ohne Moskauer Oberaufsicht aufgemacht – obwohl es grossteils nicht lateineuropäisch grundiert ist; das trifft nur auf den Westen des Landes zu, mit seiner polnisch-litauischen bzw. österreichisch-ungarischen Geschichte, dort, wo auch die katholische und die unierte Konfession nachwirken (wie manchenorts in Belarus ebenso).

Wandel ist möglich

Selbst im russischsprachigen Osten, Donbass ausgenommen, und im Süden des Landes, wo die Identifikation mit der postsowjetischen Ukraine ante bellum nur mässig war, werden die Invasoren nicht als Befreier geherzt, sondern eisern bekämpft. Huntington irrte: «If civilization is what counts … violence between Ukrainians and Russians is unlikely» – von wegen, selbst in Charkiw und Odessa wiegt nun der Wunsch nach Wandel schwerer als die Last der Geschichte. So wie sich auch in Taiwan das Prinzip Freiheit durchgesetzt hat, zum Horror Pekings. Dass ferner die meisten Leute in Belarus nur durch neostalinistischen Terror daran gehindert werden, auch diesen Pfad einzuschlagen, ist anzunehmen.

Die lateineuropäisch-orthodoxe Kulturkluft hat nicht verhindert, dass sich Bulgarien und Rumänien nach Westen umorientiert, der EU und der Nato angeschlossen haben. Auf dem Balkan kommt sogar noch osmanisches Zivilisationssubstrat hinzu. Rumänien vereint in sich alle drei Traditionen: im Karpatenbogen die lateineuropäische, in der Walachei und der Moldau die orthodoxe und die osmanische. Nicht dass Rumänien oder Bulgarien unterdessen Musterdemokratien und vorbildliche Rechtsstaaten wären, bewahre, so was dauert, aber man gibt sich, hat und macht Mühe; immerhin.

Und Russland? Kann es sich von der imperialen Despotie zum «normalen» Nationalstaat wandeln, quasi hors-sol europäisieren? Nicht unmöglich, doch vorerst unwahrscheinlich, erst recht, falls Putin als Landräuber reüssieren sollte. Bernd Roeck, Emeritus für Geschichte an der Universität Zürich, sagt, man könne das russische «Reich als einen autoritären, der orthodoxen Kirche eng verbundenen Staat mit wenig innovationsfreudiger Ökonomie beschreiben, der Rohstoffe exportiert und komplexere Technik importiert und der, obwohl ohnedies ein Gigant, von Hunger auf Westland geplagt scheint…» – wohlverstanden: Er schreibt hier über das Russland Iwans des Schrecklichen (16. Jhdt.). Manche Länder sind ihrer Geschichte verhafteter als andere.

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