Ihr Browser ist veraltet. Bitte aktualisieren Sie Ihren Browser auf die neueste Version, oder wechseln Sie auf einen anderen Browser wie ChromeSafariFirefox oder Edge um Sicherheitslücken zu vermeiden und eine bestmögliche Performance zu gewährleisten.

Zum Hauptinhalt springen

EZB im heiklen Kampf gegen die Inflation

Die Europäische Zentralbank (EZB) hat endlich einen ersten Schritt zur Inflationsbekämpfung unternommen. Damit haben die Debatten unter den EZB-Beobachtern, welches Ausmass dieser erste Zinsschritt haben würde, ein Ende, und die Aufmerksamkeit richtet sich nun hoffentlich auf die neue geldpolitische Strategie, die sich in der nächsten Zeit entfalten wird.

Ob die Zinsen im Juli um 25 oder um 50 Basispunkte angehoben würden, war unerheblich, ausser natürlich für die Anleger, deren private Interessen für die Bürger des Euroraums, die Unternehmen und die Regierungen aber keine grosse Rolle spielen sollten. Dass es letztlich 50 Basispunkte waren, sollte niemanden wirklich überrascht haben. Viele andere Notenbanken haben mittlerweile grössere Zinsschritte gemacht, weil die Inflation so weit über dem offiziellen Ziel liegt, dass es mit Schritten von 25 Bp ewig dauern würde,  ein Zeichen zu setzen. Die EZB wurde sehr spät aktiv, und so hatte sie keine vernünftige Alternative, als dem Vorbild der anderen zu folgen, zumal ihr Zögern den Euro belastet hat, was natürlich die Inflation weiter befeuert.

Viele EZB-Beobachter hatten dennoch auf eine Anhebung um 25 Basispunkte gewettet, denn einen solchen Schritt hatte sie an ihrer letzten Sitzung angedeutet. Dies ergab damals keinen Sinn. Der EZB gebührt Lob, dass sie nun die Abkehr von der Forward Guidance angekündigt hat. Forward Guidance ist unter zwei Bedingungen sinnvoll. Erstens dann, wenn die Unsicherheit so gering ist, dass die Notenbank eine klare Vorstellung davon hat, was sie mittelfristig tun wird. Zweitens muss klar sein, dass die Forward Guidance nicht verpflichtend ist: Sie beschreibt lediglich die Erwartungen zum gegenwärtigen Zeitpunkt. Als die Inflation auf sehr niedrigem Niveau verharrte, war Forward Guidance sinnvoll. Nun, da jede Veröffentlichung neuer Daten Überraschungen birgt, ist das anders. Die erste Bedingung ist somit nicht erfüllt. Indem die EZB die zweite einhält, macht sie es möglich, die Forward Guidance in Zukunft wieder aufzunehmen.

Zinsen sollten auf 4 bis 5,5% stehen

Wie weit die EZB die Zinsen noch anheben muss. ist dennoch bedeutsam. Die einfache Rechnung sieht wie folgt aus: In ihrer jüngsten Prognose (Juni) geht die Notenbank von einer Inflationsrate von 3,5% im Jahr 2023 und etwa 2% für 2024 aus. Die geldpolitische Wirkung tritt in der Regel mit einer Verzögerung von über einem Jahr ein. Damit die Geldpolitik jetzt restriktiv ist, müsste der EZB-Einlagensatz höher sein als 3,5% plus der reale Gleichgewichtszins. Wie hoch Letzterer ist, weiss man nicht. Schätzungen reichen von 0,5 bis 2%. Somit müssten die Zinsen bei 4 bis 5,5% liegen.

Ein solches Zinsniveau könnte die Tragfähigkeit der Staatsschulden gefährden. Deshalb befürchtete man, die EZB werde sich nicht trauen, die Zinsen so weit zu erhöhen, wie es nötig ist, um die Inflation einzudämmen. Ihre Antwort darauf ist das neue Transmissionsschutzinstrument (Transmission Protection Instrument, TPI). Es erlaubt ihr, gewisse nationale Staatstitel zu kaufen, die am Markt stark unter Druck sind. Das neue Instrument kommt zusätzlich zu den Outright Monetary Transactions (OMT) – auch bekannt im Zusammenhang mit «Whatever it takes» – und dem Pandemic Emergency Purchase Program (PEPP) hinzu. Mit dem PEPP kann die EZB im Rahmen von quantitativer Lockerung grosse Mengen potenziell instabiler Schuldtitel erwerben. Es ist nicht auf eine Krisensituation ausgerichtet, kann aber als Signal an die Märkte verwendet werden.

OMT ist mächtig, weil es den unbegrenzten Aufkauf von Schuldpapieren ermöglicht. Es ist aber an Bedingungen geknüpft – besonders an das Vorhandensein eines mit dem Europäischen Stabilitätsmechanismus vereinbarten Programms – und somit schwerfällig. Im Jahr 2012 hat es gegriffen, weil die Länder, die davon profitieren würden, ein solches Programm hatten. Heute hat der wahrscheinliche Nutzniesser, Italien, kein entsprechendes Programm und wird wahrscheinlich auch keines beantragen.

Gefahr einer Schuldenkrise

Wie OMT erlaubt auch das TPI unbegrenzte Interventionen, was in einer Krisensituation unabdingbar ist. Es ist jedoch an vier Bedingungen geknüpft. Zwei betreffen den Stabilitäts- und Wachstumspakt: Der Begünstigte darf weder einem Verfahren wegen übermässiger Defizite noch einem wegen übermässiger Haushaltsungleichgewichte unterworfen sein. Da der Pakt bis Ende 2023 ausgesetzt ist, sind diese beiden vorerst hinfällig. Danach werden Interventionen im Rahmen des TPI möglicherweise von der Bereitschaft der Kommission abhängen, ihre Aufsicht entsprechend anzupassen. Die dritte Bedingung setzt grünes Licht vonseiten der Schuldentragfähigkeitsanalyse (Debt Sustainability Analysis, DSA) voraus. Das soll belegen, dass die Schuldenkrise nicht durch schlechte Fundamentaldaten verursacht wird. Analysen der Schuldentragfähigkeit beruhen allerdings auf Annahmen zur langfristigen Entwicklung. Man braucht also bloss die richtigen Annahmen zu treffen, um zum gewünschten Ergebnis zu gelangen.

Diese Bedingung ist zwar von wirtschaftlichen Überlegungen geleitet, ist in Wirklichkeit aber politisch, da sie den Mitgliedländern ermöglicht, die entscheidenden Annahmen in Frage zu stellen. Ein gewiefter Kompromiss – der jedoch nach hinten losgehen kann, sollten sich die Regierungen gerade dann uneinig sein, wenn die Märkte in den Panikmodus überzugehen beginnen. Viertens setzt das TPI die Einhaltung der Resilienz- und Wiederherstellungsfazilität voraus. Das ist eindeutig auf die Zeit nach Mario Draghi gemünzt, wenn die nächste italienische Regierung versucht sein könnte, die von Super-Mario versprochenen Reformen aufzugeben. 

EZB-Präsidentin Christine Lagarde hat zu Recht darauf hingewiesen, dass das TPI und die  Zinserhöhungen eng miteinander verbunden sind. Ohne dieses Instrument stünde die EZB vor der unmöglichen Entscheidung, die Inflation zu senken, damit aber eine potenziell verheerende Schuldenkrise auszulösen. Das TPI kann da Wunder wirken, seine Konditionalität bringt aber eine gewisse Unsicherheit mit sich, die sich der Kontrolle der EZB entzieht. Das zeigt, dass die EZB trotz erheblicher Fortschritte immer noch keine normale Zentralbank ist. 

Überleben des Euros auf dem Spiel

In anderen Industrieländern lässt eine Notenbank selbstverständlich nicht zu, dass die Staatsschulden einem spekulativen Angriff zum Opfer fallen. Für die EZB gilt das nicht: Gemäss dem Vertrag von Maastricht ist es ihr nicht gestattet, ein Mitgliedland zu retten. Bei strenger Auslegung sind jegliche Interventionen ausgeschlossen, die als Bail-out gedeutet werden könnten. Wohl deshalb hat die EZB zwei Jahre gebraucht, um OMT zu lancieren, während sich eine Reihe von Schuldenkrisen abspielte. Ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs zu OMT hat die strikte Auslegung zwar aufgehoben, dennoch sieht sich die EZB immer noch genötigt, Bedingungen aufzustellen, um weitere Klagen zu verhindern und Konflikte zwischen hoch und niedrig verschuldeten Mitgliedländern zu vermeiden. Genau das hat sie mit der Verabschiedung des TPI erreicht.

Eben diese Bedingungen jedoch können Interventionen in einem Notfall behindern und es der EZB verunmöglichen, eine aufkeimende Schuldenkrise einzudämmen. In diesem Sinne ist die EZB noch keine normale Notenbank. Zudem könnte dieses Risiko die EZB davon abhalten, die Inflation entschlossen zu senken. Auch deshalb kann sie nicht als normale Zentralbank gelten. Abgesehen von rechtlichen Erwägungen wird sie zudem durch einen Mangel an Vertrauen ihrer Mitgliedländer behindert: Die niedrig verschuldeten Staaten sind nicht gewillt, über die EZB  für die Schuldensünder zu zahlen, und die hoch verschuldeten scheinen nicht in der Lage zu sein, ihre Haushaltsdefizite in den Griff zu bekommen. Wenn das reibungslose Funktionieren, ja das Überleben des Euros gewährleistet werden soll, muss etwas geschehen.