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Im Grund lässt der Westen die Ukraine im Stich

Die systematische Betrachtung von Vorgehensweisen unter dem Gesichtspunkt von Strategemen liegt jenseits des Denkhorizonts westlicher Menschen. Strategem ist ein neutral konnotiertes Alternativwort für den oft anrüchig anmutenden Ausdruck List. Es ist nicht zu verwechseln mit Strategie, also langfristiger Planung. In China ist es üblich, Geschehnisse unter dem Gesichtspunkt der 36 Strategeme, der Quintessenz der chinesischen Listkunde, zu analysieren. Die 36 Strategeme sind 36 ohne moralische Wertung  formulierte Listtechniken Sie wurden vor ca. 500 Jahren in einer Broschüre zusammengestellt und kommentiert. Ich habe 1988 das erste westliche Buch darüber publiziert («36 Strategeme»).

Bei einer konstruktiven und nicht der Schädigung eines Gegenübers oder dem blossen Amusement dienenden strategemischen Analyse evaluiert man, ob man einen Vorgang als Anwendung eines bestimmten Strategems interpretieren könnte. Im Westen sind sich Handelnde gar nicht bewusst, dass man ihr Tun als Anwendung eines oder mehrerer Strategeme auslegen kann. Ein ernsthafte strategemische Analyse zielt darauf, durch  den Bezug einer Tat auf ein Strategem dieselbe in ein ungewohntes Licht zu tauchen und auf diese Weise dem Augenschein entzogene Aspekte der Tat sichtbar zu machen.

Das westliche  Vorgehen gegenüber dem Aggressor kann folgenden Strategemen zugeordnet werden:

Erstens: Alles dominierend ist das Strategem Nr. 36 – «Weglaufen ist das Beste.» Der Westen beteuert zwar, er wolle der Ukraine bei der Verteidigung ihrer Souveränität und territorialen Integrität beistehen, doch gleichzeitig sichert er Russland zu, auch nicht mit einem einzigen Luftgewehrschuss der Ukraine beizustehen. Natürlich hat der Westen nachvollziehbare Gründe für sein Abseitsstehen. Die strategemische Analyse macht indes bewusst, dass der Westen vor einem Krieg mit Russland «davonläuft» und so Russland grünes Licht für eine unbegrenzte, grauenhafte Kriegsführung gegen die Ukraine gibt.

Zweitens: Strategem Nr. 3 – «Mit dem Messer eines anderen töten.» Der Westen hofft, Putin zu beseitigen. Aber der Westen will, auch wieder aus nachvollziehbaren Gründen, militärisch dafür keinen Finger rühren. Die Ukraine soll das erledigen.

Drittens: Strategem Nr. 29 – «Einen dürren Baum mit künstlichen Blüten schmücken.» «Viele westliche Berichterstatter schreiben aus Solidarität mit der Ukraine die Lage schön» (Benedict Neff, in «Neue Zürcher Zeitung», 10. Juni 2022, Seite 17). Im Westen gibt es nur einen Plan A, nämlich für eine künftige Ukraine, die Russland nicht wird siegen lassen oder gar besiegen wird. Von einem Plan B hat man noch nie etwas gehört: Was geschieht, wenn Putin siegt?

Viertens: Strategem Nr. 22: – «Die Türen schliessen und den Dieb fangen.» Man will Russland allseitig isolieren.

Fünftens: Strategem Nr. 19: – «Unter dem Kessel das Brennholz wegziehen.» Sanktionen sowie Waffenlieferungen sollen Russland kriegsuntauglich machen. Soldaten, die die laufenden Verluste an ukrainischen Kämpfern wettmachen, liefert der Westen freilich nicht. Falls Russland und die Ukraine in etwa gleich viele Soldaten verlieren, zieht die Ukraine unweigerlich den Kürzeren. Sie verfügt dann über Waffen, aber nicht über das Personal, sie zu bedienen.

Ist der Westen in der Lage, alle Türen zu schliessen und Russland alles «Brennholz» zu entziehen? Schwer vorstellbar, denn Länder wie Indien oder China befolgen die Sanktionen nicht. «Kein Land in Lateinamerika beteiligt sich an den Sanktionen gegen Russland, auch kein Land aus Afrika. In Asien sind es lediglich Japan, Südkorea und Taiwan» (Stefan Aust, Adrian Geiges, in «Die Welt», 26. Juni 2022). Und Russland allein verfügt über die stärkste Waffe, die Atombombe, die der Westen der Ukraine nicht geben wird.

Retten, was noch zu retten ist

Ein Sieg der Ukraine ist angesichts der vielen westlichen vitalen Abstinenzen unwahrscheinlich. «Gewinnen werden die Unterstützer der Ukraine diesen Krieg absehbar nicht» (Stefan Kornelius, in «Tages-Anzeiger», 13. Juli 2022, Seite 12). Es zeichnet sich ein blutiger Opfergang des ukrainischen Volkes und seiner Armee ab, bis zur Zerstörung des ganzen Landes. Könnte dies durch die Anwendung eines Strategems vermieden werden?

Wenn ja, dann dadurch, dass die ukrainische Führung beschliesst, das Strategem Nr. 34, das «Strategem des leidenden Fleisches», anzuwenden. Dabei geht es in keiner Weise darum, Putin das Gesicht wahren zu lassen oder ihm entgegenzukommen. Es geht einzig und allein um das Bestreben der Ukraine, zu retten, was noch zu retten ist, nämlich Menschenleben, Städte, Infrastruktur usw. In einem Buch über die 36 Strategeme, das 2021 in ukrainischer Übersetzung im Verlag Ranok in Charkiw erschienen ist (https://www.ranok.com.ua/ru/info-36-strategem-dlya-kerivnika-31899.html), schreibe ich, man müsse bei der Umsetzung dieses Strategems «das richtige Augenmass  bewahren und sehr aufpassen, dass nicht irreparable Nachteile zurückbleiben».

Putins schrankenlose Brutalität

Im vorliegenden Fall lassen sich irreparable Nachteile so oder so nicht vermeiden. Es gibt nur die Wahl zwischen irreparablen Schäden vergleichsweise mittleren oder einem Trümmerfeld maximalen Ausmasses. Ein Ende mit Schrecken mit irreparablen Schäden vergleichsweise  mittleren Ausmasses ist einem Schrecken ohne Ende mit maximalen irreparablen Schäden vorzuziehen. Schmerzhafte Zugeständnisse der Ukraine wären ein Verlust, das dafür erreichte sofortige Ende der Kampfhandlungen, des täglichen Tötens und Zerstörens wäre der den Verlust überwiegende Gewinn.

Ist nicht ein jahrelanger heldischer Kampf der Ukraine vorzuziehen? Erweist sich Russland nicht als verwundbar? Schon 2001 habe ich in einem Buch auf die sich abzeichnende schrankenlose Brutalität Putins hingewiesen («Die Kunst der List», Beck Verlag, München 2001, Seite 164 f.). Zu bedenken ist, dass eine in die Ecke gedrängte Katze vom Schlage Putins zu einem Tiger und dieser zu einem King Kong mutieren könnte. Ist mit Sicherheit auszuschliessen, dass Putin, auch wenn er dies derzeit dementieren mag, angesichts eines sich abzeichnenden langwierigen Krieges, einer drohenden Pattsituation oder gar einer Niederlage zur Erzwingung einer Kriegswende zugunsten Russlands auf den Einsatz taktischer Atombomben in der Ukraine zurückgreifen wird?

(Foto: Copyright Günther Reip)

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