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Dekantiert

Weinkritiker Robert Parker hat das 100-Punkte-System populär gemacht.

Die Bewertung von Wein ist eine umstrittene Angelegenheit. War sie schon immer. Um eine Vorstellung zu bekommen, muss man sich nur die Streitereien zu Kritikern und der Bewertung der gastronomischen Köstlichkeiten ansehen, die um Restaurants und Michelin- Sterne ausgetragen werden. Das Michelin-Sternesystem ist in der Tat kein 100-Punkte-Bewertungs­system wie beim Wein, sondern eine Dreipunkteskala. Gross wäre wohl der Aufruhr, wenn eine solche für den Wein übernommen würde.

Und welcher Wein würde dann drei Sterne erhalten – die höchste Auszeichnung, analog derjenigen für das perfekte kulinarische Erlebnis? Oder umgekehrt: Es gibt – wenn auch nur selten – die perfekte Bewertung für Weine und Restaurants, aber eigentlich nie für Lebensmittel und andere Genussmittel; dies mit der einfachen Begründung, dass es ­etwas Perfektes kaum geben kann.

Aber da dies der Fall ist, und obwohl zahlreiche Kritiker gerne darauf hinweisen, dass einem Wein nicht leichtfertig 100 Punkte verliehen werden, ist es dennoch schwer erklärbar, warum es nicht viel mehr «Hunderter» gibt, ist doch die Qualität der Weine durch Fortschritte in der Herstellung über die letzten Jahre massiv gestiegen. Weine mit 90 und mehr Punkten fehlen heute in keinem Weininserat. Die Weinwerbung ist überladen mit Superlativen und hohen Punktezahlen.

In sogenannten Profi-Vergleichsverkostungen werden oft Serien sehr hoch bewerteter Weine mit anderen Weinen blind verglichen. Dabei stehen immer zwei Fragen im Zentrum: ob sich die 100-Punkte-Weine ihres hohen Ratings würdig erweisen und wie sich der oder die Aussenseiter in der hochkarätigen Umgebung behaupten.

Der britische Weinautor Jamie Goode spricht von einer «Bewertungskompression» und kritisiert, dass die Noten für Weine fast durchweg nach oben gehen. Wenn also eine Verdichtung stattfindet und die Messlatte so hoch liegt, warum stossen wir dann nicht mit viel grösserer Regelmässigkeit an die 100-Punkte-Grenze? Eine hohe Punktzahl ist wie der Gefällt-mir-Knopf in den sozialen Medien: Gibt man einem Wein eine hohe Punktzahl, steigert das die Zufriedenheit des Produzenten, was wiederum ­dafür sorgt, dass der Kritiker eine gute ­Erwähnung von diesem Erzeuger erhält, was wiederum den Ruf des Kritikers stärkt. Dieser muss seine 100-Punkte-Weine gut auswählen, und es müssen Tropfen sein, die bei der Mehrheit der Weinliebhaber bereits hoch im Kurs sind. Dadurch wird eine solide Schärfung des Profils gewährleistet.

Das bringt uns zur Frage, wer Wein­kritiken braucht und warum. Das Thema ist in der Fachwelt und auch darüber ­hinaus nicht neu, bekommt aber in der grossen und unübersichtlichen Weinwelt immer wieder neue Impulse. Weinkritiken können einen Hinweis geben, was aber ein guter oder gar ein 100-Punkte-Wein ist, muss jeder selbst bestimmen. Auf dem Weg dahin können Weinbeschreibungen hilfreich sein, denn sie vermitteln einen Eindruck, wie sich ein Wein ­geschmacklich und stilistisch darstellt. Geschulte und geübte Sensoriker sollten Aromen im Wein nicht nur wahrnehmen, sondern sie auch verständlich und nachvollziehbar beschreiben können. Nur so kann die Weinkritik dem Kon­sumenten eine brauchbare Hilfestellung geben – und die auch vermeintlich ob­jektive Punktzahl.

Eigentlich sind 100 Punkte – und das ist die Folgerung – so leicht zu verteidigen wie kaum eine andere Marke. In einem Berufszweig, der grösstenteils auf Objektivität bei der Bewertung Wert legt, kann man nicht subjektiver sein, als einem Wein 100 Punkte zu geben, wohlwissend, dass die Beurteilung hinterfragt werden kann, aber auch akzeptierend, dass Perfektion ohnehin individuell ist. Wenn man all diese Faktoren zusammennimmt, ist es in der Tat kaum erstaunlich, dass es nicht mehr «Hunderter» gibt.