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MeinungDie Bevölkerung wird implodieren – was jetzt zu tun ist

In New York City kommen zurzeit mehr Busse an als sonst. Darin sitzen illegale Einwanderer. Es ist ein «Geschenk» von Gregg Abbott, Gouverneur von Texas – Grenzstaat zu Mexiko. Zuvor hatte der New Yorker Bürgermeister Eric Adams den Umgang Abbotts mit diesen Menschen kritisiert. Die Antwort des Gouverneurs: Dann nimm du sie doch.

Was in der ganzen Empörung in New York gerade untergeht: Abbott macht hier tatsächlich ein Geschenk. Die USA sind nämlich – wie fast jede entwickelte Volkswirtschaft der Welt – nur einige Jahre davon entfernt, eine demografische Katastrophe zu erleben, die der US-Arbeitsökonom Ron Hetrick als «Hurrikan, Tornado und Erdbeben in einem» bezeichnet.

Einen Vorgeschmack erleben die USA und Teile Europas heute schon. So gut wie jede amerikanische Branche beklagt seit rund zwei Jahren akuten Personalmangel. Dabei kommen auf jeden Stellensuchenden fast zwei offene Stellen. Die Arbeitslosenrate ist – wie auch in der Schweiz – bereits rekordverdächtig tief.

Babyboomer hinterlassen eine Lücke

Nach dem nie dagewesenen Stellenabbau zu Beginn des ersten Covid-Lockdown sind im folgenden Boom nicht mehr alle Arbeitnehmer auf den Jobmarkt zurückgekehrt. Das hat damit zu tun, dass eine Entwicklung, die seit über zehn Jahren läuft, durch Corona auf Überschall beschleunigt wurde.

Um das Jahr 2010 begann die Generation der Babyboomer damit, in den Ruhestand zu gehen. In der Pandemie haben sich in den USA rund 2 Mio. mehr sogenannte Boomer als zuvor frühpensionieren lassen. Die nachfolgenden Generationen können die Lücke, die sie hinterlassen, nicht schliessen.

Denn nach den Boomern ging es mit der Geburtenrate scharf bergab. Zunehmender Wohlstand hat weniger Kinder zur Folge, nicht nur in den reichsten Ländern, sondern überall auf der Welt. Die Menschheit könnte nach neuesten Schätzungen nie 10 Mrd. erreichen, sondern dürfte davor bereits schrumpfen.

Für die USA heisst das: In einigen Jahrzehnten könnten zwei Drittel der arbeitsfähigen Amerikaner aus dem Stellenmarkt ausgeschieden und finanziell vom verbleibenden Drittel abhängig sein. Die Rentenfrage steht so schon seit langem im Zentrum. Die Antworten bisher: längere Lebensarbeitszeit, mehr private Vorsorge, Steuergeld für die staatliche Rente.

Heimisches Potenzial ausschöpfen

Doch das Problem ist viel bedrohlicher. Eine schrumpfende Bevölkerung kann geradezu den gesellschaftlichen Zerfall bedeuten. Das Angebot an Waren und Dienstleistungen sinkt langfristig, die Produktivität kollabiert, Rezession und hohe Inflation werden zum Alltag, Steuereinnahmen und soziale Wohltaten trocknen aus. Man stelle sich das Wirtschaftswunder der Nachkriegszeit in albtraumhaftem Rückwärtsgang vor.

In einer Welt mit weniger Arbeitskräften werden Unternehmen noch intensiver in die Digitalisierung und die Automatisierung investieren müssen. Wo es in Zukunft möglich sein wird, werden Maschinen statt Menschen die Arbeit verrichten. Selbstfahrende Lastwagen werden beispielsweise in wenigen Jahren das Strassenbild prägen.

Doch es wird auch in Zukunft Dienstleistungen geben, zum Beispiel im Bereich der immer wichtiger werdenden Altenpflege, wo noch lange kein Roboter den Homo sapiens ersetzen kann. Darum muss das vorhandene inländische Potenzial besser ausgeschöpft werden. Denn in den USA wollen schon heute die Millennials den Staffelstab der Boomer nicht nahtlos aufnehmen. Vor allem geringqualifizierte Männer arbeiten nicht im gleichen Mass wie ihre Vorgänger. In den USA macht hier gerade die Bezeichnung «Quiet Quitter» die Runde – im deutschen Sprachraum längst als «innere Kündigung» bekannt.

Die USA haben dabei das grosse Problem, dass im Vergleich zur Schweiz die Löhne viel niedriger sind, doch in vielen urbanen Regionen das Preisniveau ähnlich hoch ist. Die Hoffnung besteht, dass steigende Löhne aufgrund des chronischen Arbeitskräftemangels in Kombination mit dem Auslaufen der staatlichen Covid-Hilfsgelder mehr Männer in den Arbeitsmarkt zurückbringen werden.

Familie und Beruf vereinbar machen

Doch es gibt auch ein Problem, das besonders Frauen betrifft. Es liegt nicht so sehr in ihrer Beschäftigungsquote – die ist heute vor allem in der Schweiz ziemlich hoch. Gesellschaft und Unternehmen überbetonen geradezu die Wichtigkeit der weiblichen Karriere. Dadurch sind wir aber am Punkt angelangt, an dem viele Frauen sich gegen Kinder entscheiden, obwohl sie in Umfragen angeben, eine Familie haben zu wollen.

Die Mechanismen, die hier spielen, sind vielschichtig. Will die Gesellschaft allerdings mehr Frauen länger im Arbeitsmarkt halten und gleichzeitig mehr Kinder haben, dann muss sie das System grundsätzlich anders denken, wie Arbeit begriffen, strukturiert, honoriert und besteuert wird. Ein Anfang wäre eine Elternzeit, die diesen Namen verdient. Ein zweiwöchiger Vaterschaftsurlaub ist nett, hilft aber nicht.

Auch Unternehmen müssen realisieren, dass die Vereinbarkeit von Familie und Beruf kein reines Lippenbekenntnis bleiben kann. Ein gutes Beispiel liefert hier der amerikanische Fleischverarbeiter Tyson Food mit seinen offensiven Werbe- und Halteprozessen für Personal. Die umfassen Zuschüsse oder Komplettfinanzierung von Unterkunft, Transport, Kinderbetreuung, Krankenversicherung und Weiterbildung.

Corporate America wird es allein aber nicht schaffen angesichts der schieren Grösse des Problems. Das ganze US-Baugewerbe hat heute schon mehr offene Stellen, als es arbeitslose Bauleute im Land gibt. Bis 2030 soll in Technologie- und Wissenschaftsberufen über 1 Mio. zusätzlicher Stellen geschaffen werden. Sie werden Millionen weiterer Arbeitsplätze in Zulieferindustrien entstehen lassen.

Der Gesundheits- und Pflegesektor, der heute schon zu fast 20% auf ausländische Arbeitskräfte angewiesen ist – der Schweiz wird’s bekannt vorkommen –, hat heute 2 Mio. offene Stellen und soll in Zukunft weiter stark wachsen. Damit sind wir am kontroversesten, aber wohl wichtigsten Punkt: Der Arbeitskräftemangel wird in Zukunft, in den USA wie in der Schweiz, nur durch eines ausgeglichen werden können – mehr Zuwanderung.

Seit der Regierung von Donald Trump ist die Nettoimmigration in den USA aber rückläufig. Die Flüchtlingskontingente wurden gesenkt und die Behörde, die die Arbeitsvisa ausstellt, kaputtgespart. Die einfache Verlängerung einer Aufenthaltsbewilligung kann heute bis zu zwei Jahren dauern, während Unternehmen wertvolle Mitarbeiter verlieren.

Die USA gehen mit einer ihrer grössten Bedrohungen derart ignorant und fahrlässig um, als hätten sie eine zweite Boomer-Generation irgendwo in Reserve. Dabei ist das Land eigentlich bestens positioniert, um sich im aufziehenden scharfen globalen Wettstreit um die verbliebenen Arbeitskräfte die besten herauszupicken.

Es braucht eine Immigrationsreform

Das Einfachste wäre es, Kontingente zu erhöhen oder mehr temporäre Arbeitsvisa auszustellen. Besser und nötiger wäre aber eine umfassende Zuwanderungsreform. Die USA wie auch die Schweiz brauchen ein vernünftiges System der gezielten Anwerbung, Immigration und Integration dringend gebrauchter Arbeitskräfte verschiedenster Qualifikationsstufen.

Das Thema ist in beiden Ländern aber politisch derart vergiftet, dass – ähnlich wie beim Klimawandel – die negativen Folgen wohl erst gründlich gefühlt werden müssen, bevor sich wirklich etwas ändert. Der Unterschied hier ist allerdings: Beim Klimawandel spürt längst jeder am eigenen Leib, dass etwas falsch läuft. Punkto Demografie glaubt ein Grossteil der Bevölkerung dagegen immer noch, die Erde werde bald an Überbevölkerung ersticken.

Wenigstens New York City ist seit jeher Weltklasse darin, hart arbeitende Menschen aus aller Herren Länder anzuziehen und sie zu einem Teil von sich zu machen. Das verbindet sie mit der Schweiz. Zumindest die Stadt am Hudson ist gut beraten, sich nun daran zu erinnern – und die Busladungen aus Texas tatsächlich als das zu sehen, was sie sind: ein Geschenk.